Schule und Corona – Chancengleichheit

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Chancengleichheit.

Das ist DAS Argument momentan, um in den Schulen nichts ändern zu müssen. Wer Fernunterricht an Schweizer Schulen fordert, hört sofort als Gegenargument: aber das gefährdet die Chancengleichheit! Willst du das wirklich?

Zum Thema Chancengleichheit gibt es in den vergangenen Jahren mehrere Untersuchungen. Die Schweiz schneidet in all diesen Studien schlecht ab. Um die Chancengleichheit in der Schweizer Bildung steht es schlecht. Schon lange. Daran ist nicht Corona schuld. Man weiss, dass Kinder aus benachteiligten, bildungsfernen Familien nur kleine Chancen haben, je ein Gymnasium zu besuchen, egal wie intelligent sie sind, weil sie zu wenig gefördert werden. Im Gegensatz dazu werden Kinder wohlhabender Eltern ins Gymnasium gepusht, auch wenn sie nicht so intelligent sind.

Nachhilfestunden und Privatschulen boomen. Es wird für Nachhilfeunterricht bezahlt, damit die eigenen Kinder Aufnahmeprüfungen schaffen. Wer es sich leisten kann, fördert seine Kinder auch ausserhalb des Schulzimmers.

Für Kinder aus bildungsfernen Familien gibt es wenige Möglichkeiten. Wer kein Deutsch spricht, erhält ein paar wenige Stunden DAZ. Für Frühförderung fehlt es an Geld. Wo bleibt da die Chancengleichheit?

Die Schulen erteilen weiterhin Hausaufgaben. Wer nicht das Glück hat, dass er zuhause Eltern hat, welche mithelfen können, täglich diese Aufgaben zu erledigen oder auf Prüfungen zu lernen, hat schon einmal Pech gehabt. Auf diese Hausaufgaben stützen immer noch viele Lehrpersonen ihren Unterricht ab. Das ist leider Realität. Das Argument, dass Kinder zuhause den Stoff repetieren müssen, um das Gelernte zu verinnerlichen, ist aus meiner Sicht einfach nicht wahr. Hausaufgaben verursachen in vielen Familien nur Stress. Die schnellen Schüler*innen erledigen diese ruckzuck und können sich danach erholen. Langsamere Schüler*innen hocken täglich Stunden daran und haben keine oder nur kurze Erholungszeiten und dazu immer wieder Streit mit den Eltern. Wer die Hausaufgaben gut schafft, vielleicht auch weil das Mami oder der Papi mitgeholfen haben, wird in der Schule gelobt. Wer die Hausaufgaben nicht erledigt hat, kriegt Strafaufgaben, wird gerügt, ist ein schlechter Schüler. Ist das Chancengleichheit? Wer hat in den vergangenen Jahrzehnten etwas gegen diese Ungerechtigkeit unternommen?

Lehrstellensuchende aus bidungsfernen Familien haben schlechtere Aussichten, eine für sie optimale Lehrstelle zu finden. Viele Lehrstelle werden durch Beziehungen vergeben. Diese Beziehungen haben bildungsferne Familien oft nicht. Einer meiner Real-Abschlussschüler und Lehrstellensuchenden hat mir vor kurzem ganz frustriert mitgeteilt: Jetzt habe ich bereits 20 Absagen gekriegt und kein einziges Mal schnuppern oder mich vorstellen dürfen. Langsam wäre ich froh, wenn ich Meier oder Müller heissen würde und nicht einen fremdklingenden Nachnamen hätte. Das ist leider Realität, seine Chancen wären als Meier grösser. Ist das Chancengleichheit? Interessiert das jemanden? Was wird dagegen unternommen?

Wollen wir diese Chancengleichheit überhaupt? Warum tun wir dann nichts dafür?

 

Nun haben wir Corona. Im Frühling 2020 fand während 6 Wochen kein Präsenzunterricht statt an den Volksschulen. Das sei nicht gut gewesen für die Kinder und Jugendlichen. Die Chancengleichheit sei nicht gewährleistet gewesen. Das müsse jetzt um jeden Preis verhindert werden.

Dieser Preis heisst: sämtliche Schüler*innen müssen täglich bis zu 8 Stunden zusammen mit bis zu 25 anderen Schüler*innen in einem Raum verbringen. Meist in einem Raum ohne Lüftung. Das heisst, die Fenster müssen immer wieder geöffnet sein: Es ist pausenlos kalt. Es hat Durchzug. Einige Schüler*innen frieren ständig. Andere finden das nicht schlimm.

Wer über 12jährig ist, muss pausenlos eine Maske tragen. Wer jünger ist, ist ungeschützt im Schulzimmer. Einigen Schüler*innen fällt das schwer. Sie müssen immer wieder daran erinnert werden, die Maske richtig zu tragen. Andere tragen die Maske und sagen, sie merken nichts davon.

In der Pause draussen an der frischen Luft dürfen nur noch maximal 5 Schüler*innen zusammen stehen. Im Schulzimmer 25.

Ständig werden Hände gewaschen. In vielen Schulzimmern hat es übrigens kein warmes Wasser. Einigen Schüler*innen fällt das schwer.

Einige Schüler*innen machen sich Sorgen um ihre vulnerabeln Familienmitglieder.

Einige Schüler*innen suchen eine Lehrstelle. Schnupperlehren werden abgesagt. Wer Glück hat oder Beziehungen, findet etwas. Die anderen suchen und versuchen ihr Bestes und hoffen.

Einigen Schüler*innen geht es nicht gut. Familiäre Probleme verstärken sich momentan. Es gibt existentielle Sorgen und Ängste in den Familien.

Einige Schüler*innen sind in den 6 Wochen Fernunterricht aufgeblüht und haben Leistungen gezeigt, welche ich nie erwartet hätte. Andere hatten grosse Probleme damit.

Einige Schüler*innen haben vermehrt psychische Probleme.

Einige Schüler*innen haben ein stärkeres, andere ein schwächeres Immunsystem.

Immer wieder sind Schüler*innen zuhause, weil sie krank oder in Quarantäne sind. Für sie findet kein Unterricht statt.

Ist das jetzt diese wunderbare Chancengleichheit, die unbedingt aufrecht erhalten werden muss?

 

Wäre im Moment Chancengleichheit nicht eher:

Für sämtliche Schüler*innen die Infrastruktur / Computer für möglichen Fernunterricht organisieren.

Aufträge erarbeiten, welche sämtliche Schüler*innen auch offline bearbeiten können. Und damit meine ich nicht Blätter ausdrucken und abarbeiten. Damit meine ich eher offene Aufträge, kleine Projekte,…

Aufträge erarbeiten, welche sämtliche Schüler*innen selbständig und ohne Eltern erledigen können.

Alternative Prüfungssysteme überlegen und ausprobieren. Ein Thema von der Primar bis zur Universität.

Mit sämtlichen Schüler*innen und deren Eltern mögliche Betreuungsangebote besprechen und organisieren.

Konzepte ausarbeiten, um sämtliche Schüler*innen individuell zu unterrichten. Vielleicht für einige im Präsenzunterricht, für andere im Fernunterricht, Gruppenweise in der Schule oder Gruppenweise bei einer Betreuungsperson. Es gibt nicht nur Präsenz- und Fernunterricht. Es gibt Mischformen, welche die Anzahl Kontakte stark reduzieren könnten ohne dass die Schüler*innen nur noch alleine zuhause sitzen müssen.

Warum werden solche Modelle nicht ernsthaft diskutiert?

Ich bin sicher, es gibt noch viele andere kreative Möglichkeiten, um Chancengleichheit in der Schweizer Bildung zu fördern.

Dass jetzt so viele Menschen dieses Thema so ernst nehmen, finde ich grossartig. Ich erwarte in den nächsten Tagen und Wochen ganz viele neue Ideen und Konzepte von all diesen Menschen.

Und bis dann hoffe ich einfach ganz fest für all meine Schüler*innen und Lehrerkolleginnen und -kollegen, dass sie und ihre Familien gesund bleiben. Und dass wir dieses UM JEDEN PREIS müssen die Schulen Präsenzunterricht anbieten, nicht zu teuer bezahlen müssen.